Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sieht in der Zusammensetzung des neuen Parlaments ein Zeichen der gesellschaftlichen Pluralität der Bundesrepublik. Es habe auch früher schon jüngere Abgeordnete gegeben, sagte er in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ und erinnerte daran, dass er selbst 1972 bei seinem Einzug in den Bundestag mit 30 Jahren nicht der jüngste Parlamentarier gewesen sei. „So außergewöhnlich war das also auch damals nicht“, konstatierte Schäuble, der die konstituierende Sitzung des neuen Bundestages als dessen Alterspräsident eröffnen wird. Diesmal seien es „noch ein paar Jüngere mehr, und das Parlament wird auch noch einmal ein Stück weit bunter“. Die gesellschaftliche Vielfalt des Landes werde auch durch die Neulinge im Bundestag sichtbar.
Schäuble verwies zugleich darauf, dass sich die Welt und die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht veränderten. In der Wahrnehmung vieler würden die Veränderungen stärker und ihr Tempo schneller. „Das mag auch mit der schnelleren Kommunikationstechnologie zu tun haben, der Beschleunigung wissenschaftlichen Fortschritts, dem Schwungrad der Globalisierung, dem Klimawandel und dem Verlust an Artenvielfalt, der für mich eine ebenso große Bedrohungskapazität hat, und mit der Veränderung in der Art unserer Öffentlichkeit“, sagte der Bundestagspräsident. Es gebe einen starken Veränderungsdruck; deswegen brauche man im Parlament eine ständige Veränderung. „Und vielleicht ist es ja nicht falsch, wenn ein paar in diesem schnellen Wandel auch längere Erfahrungen mit einbringen“, fügte der 79-Jährige hinzu. Dies sei für ihn wie schon vor vier Jahren ein Motiv gewesen, bei der Bundestagswahl noch einmal zu kandidieren.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Präsident, wenn Sie in wenigen Tagen als Dienstältester Abgeordneter die konstituierende Sitzung des 20. Bundestages eröffnen, ist das schon die 14. Konstituierung, die Sie persönlich als Parlamentarier miterleben. Ist das trotzdem noch für Sie ein ganz spezieller Termin oder bei all der Erfahrung vor allem Routine?
Eine neue Legislaturperiode ist keine Routine; das darf sie auch nicht sein. Es ist auch das erste Mal, dass ich sie eröffne. Aber ich bin nicht sehr nervös deswegen und sehe diesem Tag mit einer gewissen Gelassenheit entgegen. Wir erleben aufwühlende Zeiten und erhebliche Veränderungen. Ich werde sagen, was ich am Beginn der Legislaturperiode für notwendig halte.
Erinnern Sie sich noch an Ihre erste konstituierende Sitzung 1972? Sie waren 30 Jahre alt, und die SPD hatte die „Willy-Wahl“ haushoch gewonnen. Sie hatten Ihren Wahlkreis trotzdem direkt gewonnen, und das als Neuling…
Ich war CDU-Kandidat in einem Wahlkreis, der als sicher galt; das hat mir den Wahlkampf sicher erleichtert, denn die CDU hatte auch damals eine schmerzliche Wahlniederlage erlitten. Das Ergebnis kam für mich als jungen Wahlkämpfer nicht ganz überraschend. Wenn man den Menschen zuhörte, hat man im Wahlkampf doch gespürt, dass die Euphorie in den eigenen Reihen nicht der Stimmung in der Bevölkerung entsprochen hat. Als neu gewählter Abgeordneter empfand ich das natürlich als eine besondere Ehre und es war für mich als junger Mann eine große Herausforderung.
Gab es konstituierende Sitzungen, die Sie herausheben würden; etwa 1990 die des ersten gesamtdeutschen Bundestages, die Willy Brandt eröffnete?
Das war sicher ein ganz besonderer Moment. Der Bundestag war noch nicht nach Berlin umgezogen, hat die konstituierende Sitzung aber hier im Reichstag abgehalten. Ich war allerdings bei den ersten beiden Sitzungen des ersten gesamtdeutschen Bundestages nicht dabei, erst bei der Wahl des Bundeskanzlers. Ich war damals in keiner guten Verfassung, sondern noch sehr rekonvaleszent. Ich bin ja ein paar Tage nach dem Inkrafttreten der staatlichen Einheit Deutschlands durch einen Schuss schwer verletzt worden und sitze seitdem im Rollstuhl. In der ersten Zeit danach war ich noch relativ stark mit mir selbst beschäftigt. Aber es war auch bewegend in einer der anderen Sitzungen, in der Willy Brandt Alterspräsident war…
…der den Bundestag schon 1983 und 1987 eröffnet hatte.
Brandt war als Kanzler in den Jahren von 1969 bis 1974 zu einer für jüngere Abgeordnete eindrucksvollen geschichtlichen Persönlichkeit geworden – er hatte ja auch 1971 den Friedensnobelpreis bekommen. Vor der vorgezogenen Neuwahl von 1983 hatte im Oktober gerade der Koalitionswechsel stattgefunden; dann sind die Grünen in den Bundestag eingezogen, und als Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion hatte ich alle Hände voll zu tun. So gab es einige konstituierende Sitzungen, die jeweils ihren ganz eigenen Erinnerungswert haben. Und vor vier Jahren bin ich zum Bundestagspräsidenten gewählt worden – das ist natürlich auch etwas Besonderes gewesen.
Bei der Wahl in diesem Jahr sind ja relativ viele junge Menschen in den Bundestag gewählt worden. Wenn Sie an Ihre erste Legislatur zurückdenken – wie gespannt sind Sie heute, mit 79 Jahren, darauf, was jetzt die Newcomer einbringen und gegebenenfalls verändern werden?
Es ist ja nicht so, dass es nicht früher auch schon jüngere Abgeordnete gegeben hat. Ich selbst war auch 1972 nicht der jüngste Abgeordnete; so außergewöhnlich war das also auch damals nicht. Aber wie jedes menschliche System lebt auch das Parlament von Kontinuität und Wandel zugleich, von Bewahren und Verändern. Diesmal sind es noch ein paar Jüngere mehr, und das Parlament wird auch noch einmal ein Stück weit bunter, beispielsweise in der neuen SPD-Fraktion. Die gesellschaftliche Vielfalt unseres Landes wird auch durch die Neulinge im Bundestag sichtbar. Ich habe feststellen müssen, dass von den früheren Weggefährten viele nicht mehr da sind. Das ist so, wenn man seit 1972 dem Bundestag angehört und alle anderen erst 1990 oder danach gekommen sind. Das war mir aber klar, als ich mich entschieden hatte, noch einmal zu kandidieren.
Als Sie erstmals einzogen, war das Drei-Parteien-System etabliert, elf Jahre später kamen die Grünen dazu, sieben Jahre danach – dank der Einheit – die PDS, also die heutige Linke, und zuletzt die AfD. Was war – aus der Sicht des Parlamentariers – der größte Einschnitt in Sitten und Gebräuche?
Der Einzug der Grünen war damals schon sehr spektakulär. Sie haben auch alles dazu beigetragen – nach dem Motto: Wir wollen den Laden aufmischen. Sie hatten auch die entsprechenden Charaktere und Temperamente und ganz neue Dinge wie das rotierende Mandat, das nach zwei Jahren abzugeben war. Dann haben sie am Tag der konstituierenden Sitzung und Kanzlerwahl einen halben Wald in den Plenarsaal geschleppt und anderes mehr…
…kränkelnde Tannenzweige in Anspielung auf das Waldsterben…
Die Einsicht in die Notwendigkeit und in die Vernunft der Institution hat dann auch die Grünen überzeugt. Mit der Linken – erst hieß sie PDS – war es ähnlich. Da gab es 1994 die etwas weniger angenehme Situation, als sich meine Fraktion zur Sitzungseröffnung durch den Alterspräsidenten Stefan Heym von der PDS-Gruppe nicht von den Sitzen erhob. Rückblickend wäre es besser gewesen, dem Amt des Alterspräsidenten die gebührende Reverenz zu erweisen. Das hätte der Glaubwürdigkeit der CDU/CSU in ihrem überzeugten Engagement gegen den Kommunismus nicht wirklich geschadet.
Ihr Amtsvorgänger Norbert Lammert sagte einmal sinngemäß, der Bundestag habe die Grünen mehr verändert als die Grünen den Bundestag. Sie haben jetzt auch die Linke darin einbezogen. Wie weit kann auch die AfD das für sich in Anspruch nehmen?
Bis jetzt ist das nicht mein Eindruck. Sie hat den Bundestag nicht wirklich sehr verändert – das haben wir in diesen vier Jahren von 2017 bis 2021 schon gut hingekriegt. Aber sie hat sich aus meiner Sicht auch leider nicht zum Besseren entwickelt. Die Frage bleibt offen.
Abgeordneter zu sein, „nur an sein Gewissen gebunden“, bedeutet nicht nur viel Arbeit, sondern auch viel Verantwortung, nicht zuletzt bei bestimmten Gewissensentscheidungen. Kann das auch einsam machen?
Man kann Abgeordneter im repräsentativen System mit einiger Aussicht auf Effizienz nur sein, wenn man eingebunden ist in eine Fraktion. Die Kolleginnen und Kollegen, die im Laufe der Jahre fraktionslose Abgeordnete waren, sind dabei alle nicht sehr glücklich geworden. Das entspricht im Übrigen auch dem repräsentativen Prinzip, auf dem die parlamentarische Demokratie beruht. Das heißt, man findet sich in Fraktionen zusammen und bildet in diesen eine gemeinsame Position. Anders geht es auch nicht, weil stabile Mehrheiten sonst schwer zu erreichen wären.
Es gibt aber Sonderfälle, oder?
Natürlich gibt es solche Situationen, in denen man davon abweichen kann oder sogar muss. Das ist jedoch die Ausnahme vom normalen Prinzip der parlamentarischen Repräsentation: etwa bei der Frage des assistierten Selbstmords, der Frage des Lebensschutzes, den Möglichkeiten der Organspende oder auch der Frage Bonn-Berlin haben wir so entschieden. Aber das muss die Ausnahme bleiben. Ich kann für eine Position kämpfen und um Mehrheiten ringen, und es gibt auch keinen Fraktionszwang. Jeder muss aber immer entscheiden, ob er – auch wenn er anderer Meinung ist – akzeptiert, dass sich die Mehrheit seiner Fraktion anders entscheidet. Um zu solchen Entscheidungen zu kommen, wird intensiv diskutiert in den Fraktionen, den Arbeitsgruppen, den soziologischen und sonstigen Vereinigungen. Und dann muss sich der Einzelne sehr genau überlegen, ob eine Frage für ihn oder sie selbst wirklich so bedeutsam ist, dass man sich trotzdem anders entscheidet und sich etwa gegen die Meinung der Kolleginnen und Kollegen stellen muss, die sich in der Fraktion intensiver mit der Frage beschäftigen. Wolfgang Bosbach…
…der einstige Unions-Fraktionsvize und spätere Vorsitzende des Innenausschusses …
…ein bekannter und sehr angesehener Kollege, hat die Tatsache, dass er 2017 nicht mehr für den Bundestag kandidierte, mit der einprägsamen Formulierung begründet, dass er nicht immer die Kuh sein wolle, die quer im Stall steht. Das gehört auch zu den Gewissensentscheidungen.
Sie waren bislang zwei Drittel Ihrer Zeit als Abgeordneter in der Regierung, aber ein Drittel – immerhin 18 Jahre – in der Opposition. Stimmt der Satz von Franz Müntefering, dass Opposition Mist ist?
In den ersten Jahren empfinden Sie das nicht so sehr. Aber je länger die Oppositionszeit dauert, umso stärker merken Sie schon, dass die anderen die Mehrheit haben und nach ihrem Willen entscheiden können. Gut – wenn Ministerien vernünftig arbeiten, werden sie auch begründete Anliegen eines Oppositionsabgeordneten nicht von vornherein ablehnen, nur weil der in der Opposition ist. Aber in der Art, wie das Franz Müntefering gesagt hat, ist das eindrucksvoll beschrieben.
Was sagt es über die Demokratie und Geschichte der Bundesrepublik aus, dass Sie in den nunmehr 49 Jahren Ihres Abgeordnetenlebens zweimal aus der Opposition in die Regierung gewechselt sind und nun – möglicherweise – zum zweiten Mal aus der Regierung in die Opposition müssen?
Wenn das in 49 Jahren so selten geschieht, sagt es zunächst einmal aus, dass wir ein hohes Maß an Stabilität haben. Jedenfalls im Vergleich mit anderen Staaten, auch in Europa. Diese außergewöhnliche Stabilität ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht zum Nachteil der Bundesrepublik gewesen. Ob das in der Zukunft so bleibt, wird man sehen; es muss sich ja vieles verändern, so wie sich die Welt und die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht verändern.
Inwiefern?
Viele nehmen unsere Zeit so wahr, dass das Tempo der Veränderungen schneller wird und die Veränderungen stärker. Das mag auch mit der schnelleren Kommunikationstechnologie zu tun haben, der Beschleunigung wissenschaftlichen Fortschritts, dem Schwungrad der Globalisierung, dem Klimawandel und dem Verlust an Artenvielfalt, der für mich eine ebenso große Bedrohungskapazität hat, und mit der Veränderung in der Art unserer Öffentlichkeit. Diese Veränderung der Öffentlichkeit hat bedrohliche Auswirkungen für unser System einer freiheitlich-rechtsstaatlichen, die Würde jedes einzelnen Menschen schützenden Demokratie. Es gibt kluge Menschen, die darin die größte Gefahr sehen. Nun ist es ein müßiger Streit, was die größte Gefahr ist, aber jedenfalls haben wir einen starken Veränderungsdruck. Deswegen brauchen wir ja im Parlament eine ständige Veränderung. Und vielleicht ist es ja nicht falsch, wenn ein paar in diesem schnellen Wandel auch längere Erfahrungen mit einbringen. Das war für mich – wie schon vor vier Jahren – ein Motiv, noch einmal zu kandidieren.
Quelle: Interview in der Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“