Politik im Wortlaut: Bundeskanzler Scholz in Brüssel

Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz zum Europäischer Rat und Eurogipfel am 26. und 27. Oktober 2023

Archivbild: Bundeskanzler Olaf Scholz besucht die DRF Luftrettung am Airport Nuernberg anlaesslich Ihres 50-jährigen Einsatzjubilaeums,10.06.2023, Honorarpflichtiges Foto, Fee liable image, Copyright © alexanders-IMAGES/ Schuhmann Alexander

BK Scholz: Einen guten Tag auch von meiner Seite aus! Schön, dass ich Sie alle hier in Brüssel wiedersehen kann. Der Europäische Rat hat in unruhigen und sehr beunruhigenden Zeiten stattgefunden. Es war deshalb gut, dass wir uns die Zeit genommen haben, um über die vielen Herausforderungen zu sprechen, die sich gerade in der internationalen Entwicklung stellen.

Wir haben ganz sorgfältig über die Lage im Nahen Osten diskutiert. Wir haben unsere Einschätzungen ausgetauscht. Eine ganze Reihe der hier versammelten Staats- und Regierungschefs ist auch in der Region gewesen, in Israel, aber auch in den Nachbarländern, und sie haben auch ihrerseits ganz intensiv an politischen Botschaften und der Entwicklung eigener Ansichten zu dem Thema mitgewirkt.

Die zentrale Botschaft der Europäischen Union lautet: Wir verurteilen den terroristischen Angriff der Hamas auf Israel und auf die vielen Bürgerinnen und Bürger Israels, die dabei ums Leben gekommen oder entführt worden sind, auf das Schärfste, und wir stehen solidarisch an der Seite Israels.

Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Das ist auch gemeinsam vom Europäischen Rat festgehalten worden. Zu den Dingen, die wir miteinander richtig finden, gehört auch, dass die Geiseln jetzt unbedingt freigelassen werden müssen, und zwar ohne jede Vorbedingung, und dass es gleichzeitig gelingt, humanitäre Hilfe nach Gaza zu bringen. Die Bürgerinnen und Bürger Gazas, die Bevölkerung dort, sind ebenfalls Opfer der Hamas, die sich dort mit einem Staatsstreich an die Macht geputscht hat und seitdem die Bevölkerung für ihre eigenen Zwecke missbraucht und auch jetzt als menschliche Schutzschilde einsetzt.

Für uns ist klar, dass es auch wichtig ist, eine weitere Eskalation des Konfliktes zu verhindern. Deshalb ist es für uns auch wichtig, dass wir gegenüber all denjenigen eine klare Warnung aussprechen, die sich in der Region ansonsten möglicherweise an diesem Konflikt beteiligen würden. Das gilt für die Hisbollah. Das gilt für iranische Proxys und den Iran selbst natürlich allemal.

Es ist klar, dass solch eine Diskussion, die sehr lang und ausführlich war, auch unterschiedliche Einsichten und Perspektiven versammelt. Trotzdem ist es wichtig, dann zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen. Das ist gelungen. Sie ist klar und unmissverständlich. Ich bin deshalb sehr froh über die Debatte und den Meinungsaustausch, aber noch viel mehr über die klare Haltung, die die Europäische Union hier eingenommen hat.

Selbstverständlich haben wir uns auch mit der weiteren Entwicklung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine befasst. Das ist ein furchtbarer Krieg mit furchtbaren Opfern in der Ukraine, vielen Bürgerinnen und Bürgern des Landes, jungen und alten, die gestorben sind, mit unglaublichen Zerstörungen von Infrastrukturen, von Städten und Orten, alles für den imperialistischen Plan Putins, sein eigenes Reich zu vergrößern. Das darf nicht gelingen. Deshalb stehen wir fest an der Seite der Ukraine und unterstützen sie auch weiterhin humanitär und finanziell, und viele Mitgliedstaaten eben auch durch Waffenlieferungen.

Für uns ist, wenn wir über die zukünftige finanzielle Aufstellung der Europäischen Union sprechen, auch klar, dass die finanzielle Unterstützung für die Ukraine gemeinsam gestemmt werden soll. Das ist von allen schon jetzt geäußert worden, sodass wir die entsprechenden Beschlüsse fassen können und dazu die Kraft haben werden.

Wir hatten auch eine kurze Intervention von Präsident Selensky, der sich in unsere Beratungen eingeschaltet und uns geschildert hat, wie er die Situation aktuell sieht.

Nachdem wir diese vielen wichtigen Fragen zu Frieden und Sicherheit in der Welt diskutiert hatten, haben wir uns dann ganz profan unseren eigenen Themen zugewandt. Dazu gehört selbstverständlich auch die Frage, wie wir die Finanzplanung weiterentwickeln wollen. Diesbezüglich wird jetzt eine Überprüfung stattfinden, die sehr sorgfältig vorbereitet werden muss. Ich will sehr klar sagen, dass neben der Frage, dass wir wegen der Unterstützung der Ukraine natürlich zusätzliche Mittel aufwenden müssen, es schon auch darum gehen muss, die Erfüllung der finanziellen Aufgaben, die wir neu und zusätzlich sehen, dadurch zu gewährleisten, dass es Repriorisierungen und Umschichtungen im Haushalt gibt. Ich will auch nicht verhehlen, dass dafür bisher noch nicht sehr viel Arbeit geschehen ist. Es muss noch mehr Intensität in diese Aufgabe gesteckt werden, damit es uns gelingt, das rechtzeitig zu schaffen. Es kann aber sein, dass wir noch eine gewisse Zeit damit zubringen werden. Jedenfalls ist für viele Mitgliedstaaten – dazu zählt auch Deutschland – wenig einsehbar, dass wir für eine hier irgendwann getroffene Entscheidung Kürzungsentscheidungen in unserem nationalen Ausgabeprogramm beschließen müssen. Deshalb bleibt es so zentral, dass einmal geschaut wird, wie auch die vorhandenen Mittel, die ja erheblich sind, anders eingesetzt werden können und wie dadurch auch der Spielraum für neue Aufgaben gewonnen werden kann.

Dass wir uns hier auch über Migration unterhalten haben, ist nicht weiter verwunderlich. Es ist ein großes Thema, das uns alle umtreibt. Ich denke, es gibt eine große Einigkeit, dass es vor allem auch darum geht, irreguläre Einreisen nach Europa zu verhindern, um die irreguläre Migration zu reduzieren. Dafür gibt es viele, viele Instrumente, auch Aufgaben, die national wahrgenommen werden können. Auf europäischer Ebene geht es aber insbesondere darum, dass die Reform des europäischen Asylsystem jetzt gelingt. Der Rat und vor allem der Innenministerrat haben dazu eine klare Position bezogen. Jetzt geht es noch darum, eine Verständigung mit dem Parlament zustande zu bekommen. Unser ehrgeiziges Ziel sollte es aber auf alle Fälle sein, dass wir es schaffen, in dieser Legislaturperiode des Europäischen Parlaments eine solche Gesetzgebung abzuschließen.

Wichtig wird dabei sein, dass wir auch Vereinbarungen mit Ländern der Herkunft und des Transits schließen. Dazu gehören Migrationsabkommen, wie sie Deutschland aktiv vorantreibt. Dabei geht es einerseits um eine Ermöglichung legaler Wege der Zuwanderung von uns benötigter Arbeitskräfte und andererseits darum, dass diejenigen, die nicht in den europäischen Staaten bleiben können, von ihren Herkunftsstaaten oder den Transitländern unbürokratisch und ohne große Hürden zurückgenommen werden. Bei dieser Partnerschaft haben dann alle miteinander kooperierenden Länder etwas zu gewinnen. Insofern wird das auch für die Europäische Union eine ganz zentrale Fragestellung sein.

Wir wollen auch die europäische Wirtschaft und die Wettbewerbsfähigkeit der Union erhöhen. Dafür sind viele Themen wichtig. Eines der ganz wichtigen ist aus meiner Sicht der Bürokratieabbau, um den wir uns sehr bemühen werden. Dazu hat die Kommission Vorschläge gemacht. Wir erwarten noch weitere zur Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung. Deutschland und Frankreich haben bei der Klausur der beiden Kabinette in Hamburg miteinander vereinbart, dass wir auch selbst noch eigene Vorschläge nach Brüssel senden und dieses Thema unablässig verfolgen werden.

So viel von einem stark außenpolitisch geprägten Gipfel. Richtigerweise war er außenpolitisch geprägt. Denn die Welt verlangt das.

Frage: Herr Bundeskanzler, ich habe zwei Fragen zum Thema Nahost. Zum einen wüsste ich gern, ob der französische Präsident hier seinen Vorschlag erläutert hat, die Anti-IS-Koalition auch für den Kampf gegen die Hamas zu nutzen, und was Sie von dem Vorschlag halten. Halten Sie ihn für abwegig, oder erscheint er ihnen plausibel?

Zum anderen wüsste ich gern, wie Sie die Chancen einer Friedenskonferenz einschätzen. Sie hat ja Eingang in die Schlussfolgerungen gefunden. Der spanische Ministerpräsident hat gesagt, er könne sich solch eine Konferenz innerhalb der nächsten sechs Monate vorstellen. Halten Sie das für realistisch?

BK Scholz: Zunächst einmal: Wir haben eine sehr gemeinsame Position gefunden. Sie kennen die Beschlüsse, die gefasst worden sind. Sie sind wirklich sehr, sehr wertvoll. Aus ihnen ergeben sich, was jetzt unsere gemeinsamen Prioritäten sind, nämlich, erstens, dass wir neben der Unterstützung des Selbstverteidigungsrechts Israels nach dem terroristischen Angriff alles dafür tun, dass es zu keiner weiteren Eskalation kommt. Dafür spielen viele Fragen eine Rolle. Sie sind auch diskutiert worden. Dann ist es natürlich die Freilassung der Geiseln. Die dringend notwendige humanitäre Hilfe, Wasser, Lebensmittel, medizinische Güter, all das muss nach Gaza gelangen, und zwar in der ausreichenden und nötigen Menge. Wir brauchen mehr Transporte, als es heute der Fall ist. Diese Fragen haben im Mittelpunkt gestanden und waren die Vorschläge, um die es ganz konkret ging, und zwar richtigerweise, wie ich finde. Das sind die Dinge, um die es jetzt geht, wenn wir agieren.

Die Friedenskonferenz ist aus meiner Sicht ein gutes Zeichen, weil es jetzt darum geht, auch die Möglichkeiten der Diplomatie zu nutzen. Sie vorzubereiten, ist nicht ganz ohne. Das muss auch gesagt werden. Dafür muss sehr viel erarbeitet werden. Deshalb finde ich es gut, dass wir einen solchen Anstoß geben. Er kann nur funktionieren, wenn alle anderen mitmachen, die dafür auch wichtig sind, damit das etwas wird. Aber es ist vielleicht das richtige Zeichen zur richtigen Zeit.

Zuruf: Und der Vorschlag von Macron?

BK Scholz: Ich habe ja gesagt, dass wir uns im Kern auf die Dinge konzentriert haben, die jetzt auch in unserer Resolution stehen. Sie halte ich für das, was man tun sollte.

Frage: Herr Bundeskanzler, eine Frage zum Thema Naher Osten: Ihr irischer Kollege hat heute Früh eindrücklich beschrieben, wie sich aus seiner Sicht die Stimmung in den letzten zwei Wochen gedreht hat. Er sagte, vor zwei Wochen sei allen klar gewesen, dass man uneingeschränkt an der Seite Israels stehe, jetzt aber hätten doch viel mehr auch in Europa erkannt, dass man auch Israel sehr viel stärker kritisieren müsse – so ungefähr waren seine Worte. Würden Sie das ähnlich sehen, hat sich da die Stimmung gedreht? Wie sehr mussten Sie dafür kämpfen, dass nicht etwa die Forderung nach einem Waffenstillstand in den Schlussfolgerungen auftaucht?

Eine kurze zweite Frage: Sie haben gesagt, alle seien sich einig in der langfristigen auch finanziellen Unterstützung der Ukraine. Es gibt aber einen Kollegen, der die Erhöhung der Mittel weiterhin ablehnt, nämlich Viktor Orbán aus Ungarn. Was ist Ihre Haltung dazu?

BK Scholz: Ich sehe unverändert, dass es eine breite Unterstützung für die Politik der europäischen Regierungen und auch Europas gibt, entlang unserer jetzt auch festgelegten Haltung zu agieren. Dazu zählt eben auch die Unterstützung Israels, und zu sagen: Das Land hat das Recht, sich zu verteidigen.

Natürlich geht es immer darum, das dann auch entlang der Regelungen zu machen, die zu beachten sind, und wie ich schon gesagt habe, bin ich ganz sicher, dass Israel das auch tun wird. Insofern glaube ich nicht, dass die Stimmung – wenn man dieses Wort in diesem Fall überhaupt irgendwie in den Mund nehmen kann – beziehungsweise die Haltung der Bürgerinnen und Bürger zu dem, was wir als Regierungen tun, sich ändern wird.

Klar ist, dass es gleichzeitig auch unser Anliegen sein muss, die humanitäre Hilfe nach Gaza zu kriegen. Das muss von allen Beteiligten unterstützt werden – da sind ja viele aufgerufen, das möglich zu machen -, und das eben auch in großer und ausreichender Zahl.

Klar ist auch, dass es natürlich eine Perspektive geben muss, und die ist in den Beschlüssen der Europäischen Union angelegt und wird von uns allen gemeinsam ja schon lange verfolgt, nämlich die Perspektive einer Zweistaatenlösung und die Perspektive für einen eigenen palästinensischen Staat, der neben Israel existiert, und bei der beide Staaten und ihre Bürgerinnen und Bürger eine friedliche Zukunft haben können. Das ist hier auch noch einmal mit in unseren Beschluss eingeflossen. Insofern, glaube ich, war es das wert, lange zu diskutieren; denn es ist eben gelungen, sich auf das, was hier steht, zu verständigen.

Das Zweite ist die Frage der Ukraine. Ich habe schon den Eindruck, dass wir das beschließen werden, was für die finanzielle Stabilität der Ukraine notwendig ist, und denke nicht, dass die teilweise auch unterschiedlichen konkreten Einschätzungen das beeinträchtigen werden.

Frage: Herr Bundeskanzler, meine Frage schließt sich da an: Der französische Präsident hat eben in seiner Pressekonferenz die, wie er es nannte, undifferenzierten Luftangriffe Israels auf den Gazastreifen scharf kritisiert und – wörtlich – eine Waffenruhe gefordert. Finden Sie es hilfreich, im Kontext dieses Gipfels dieses Fass noch einmal neu aufzumachen? Ist das wirklich ein Zeichen der Solidarität mit Israel, wie Sie es benannt haben?

Im gleichen Atemzug hat er angekündigt, französische Staatsbürger jetzt so schnell wie möglich aus dem Gazastreifen herauszuholen, was ja nahelegt, dass die Bodenoffensive doch näher rückt. Beteiligt sich Deutschland an solchen Evakuierungen?

BK Scholz: Zunächst einmal möchte ich Pressekonferenzen, denen ich nicht beigewohnt habe und deren Messages ich nicht kenne, nicht kommentieren; das scheint mir nicht angemessen. Wir haben zu 27 diesen Beschluss gefasst, den ich hier eben geschildert habe, und das ist das, was unsere Linie ist. Selbstverständlich geht es darum, dass wir humanitäre Hilfe nach Gaza reinbekommen wollen. Wir wollen sicherstellen, dass die Geiseln freigelassen werden und auch ausreisen können. Wir wollen sicherstellen, dass diejenigen, die sich als Bürgerinnen und Bürger anderer Staaten in Gaza aufhalten, auch ausreisen können – und das gilt für viele Nationen, die dort tätig sind. Auch das setzt ja voraus, dass das möglich gemacht wird. Unser Ziel ist, genau das mit den Beschlüssen, die wir gefasst haben, zu bewegen.

Frage: Herr Bundeskanzler, zunächst eine Frage zum Thema Migration: Die Kommissionspräsidentin hat in ihrem Brief vor dem Rat ein neues umfassendes Abkommen mit Ägypten als Priorität genannt. Ist das auch Ihre Haltung, und wie müsste ein solches Abkommen aussehen, damit es besser funktioniert als das Abkommen mit Tunesien?

Eine zweite Frage: Unterstützt Deutschland den Plan des Außenbeauftragten Borrell, bis 2027 insgesamt 20 Milliarden Euro für weitere Waffenhilfe im Rahmen der europäischen Friedensfazilität zur Verfügung zu stellen?

BK Scholz: Was die erste Frage betrifft, werden wir Abkommen mit den Staaten des Transits und der Herkunft brauchen, um gemeinsam sicherzustellen, dass die irreguläre Migration zurückgeht. Das unterstütze ich – damit es da gar keinen Zweifel gibt. Es ist aber auch die Haltung aller anderen, die dort versammelt waren, dass wir das machen. Die müssen dann natürlich sehr präzise sein. Bei den Migrationspartnerschaften, die Deutschland anstrebt, gibt es immer zwei Kerne, die da sind: einmal eine sehr „customized“, maßgeschneiderte Lösung über die Frage, was denn die konkret miteinander vereinbarte Migration von Arbeitskräften, von Fachkräften, von Wissenschaftlern, von all denjenigen, die in Deutschland dringend benötigt werden und dort arbeiten wollen und sollen, betrifft. Das ist ja von Land zu Land unterschiedlich und zum anderen, wie ich das geschildert habe, eine Regelung, die eine unbürokratische Rücknahme der Bürgerinnen und Bürger in diese Länder ermöglicht, die wir wieder zurückschicken wollen und müssen. Das sollte dann auch für die Europäische Union gelten, bei der es dann aber möglicherweise auch um Fragen geht, wie man die Länder ertüchtigen kann, sodass sie die Verständigung, dass es keine von ihnen ausgehende irreguläre Migration gibt, dann auch umsetzen können.

Zu Ihrer zweiten Frage: Viele Länder leisten sehr hohe bilaterale Hilfe – Deutschland am meisten, und das wird es auch weiter tun. Das ist das, worauf wir uns jetzt konzentrieren sollten.

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben darauf rekurriert, dass der ukrainische Präsident zugeschaltet war. Der hat nach allem, was ich gesehen habe, auch gesagt, die Feinde der Freiheit würden daran arbeiten, den Westen an eine zweite Front zu bringen. Jetzt gibt es eine Delegation der Hamas, die im russischen Außenministerium ist.

Erste Frage: Sehen Sie, dass Russland aktiv an einer möglichen Eskalation arbeitet?

Zweite Frage: Wenn das länger geht oder sich ausweitet, wie stark wird dann die Konkurrenz um gewisse Munition oder Waffensysteme noch werden?

BK Scholz: Wir haben dem ukrainischen Präsidenten – auch ich persönlich in meinen letzten Kontakten mit ihm, in einem Telefongespräch, das ich mit ihm geführt habe – zugesichert, dass unsere Unterstützung für die Ukraine nicht nachlassen wird und dass sie auch nicht dadurch beeinträchtigt wird, dass wir jetzt dieses bittere neue Problem haben, das durch den furchtbaren, brutalen Angriff der Hamas auf Israel und auf viele Bürgerinnen und Bürger dort entstanden ist.

Man sieht, wohin es führt, wenn man einen Angriffskrieg startet, wie Putin das gemacht hat: Man kriegt plötzlich Partner, die man früher vielleicht niemals angeschaut hätte. Das spricht aber mehr gegen den russischen Präsidenten.

Frage: Herr Bundeskanzler, jetzt ist es aber so, dass der Gaza-Krieg auch Auswirkungen auf europäischem Boden hatte; das haben leider die negativen Ereignisse in Arras in Frankreich und auch in Brüssel gezeigt. Auch in Deutschland haben sich Demonstrationen entwickelt, die über gewisse Grenzen hinausgingen. Wie bewerten Sie das Risiko auf nationaler Ebene, und was muss im Zweifelsfall unternommen werden?

BK Scholz: Eines ist ganz klar, nämlich dass zum Beispiel das Verbrennen israelischer Fahnen in Deutschland strafbar ist. Auch Antisemitismus und antisemitische Parolen sind strafbar; es ist strafbar, den Tod von Menschen zu bejubeln. Überall da, wo das droht, werden die Versammlungsbehörden einschreiten und Versammlungen, bei denen sie das befürchten, nicht genehmigen, und die Polizei wird mit ihren Möglichkeiten die Strafverfolgung vorbereiten, die Gerichte dann umsetzen.

Insofern ist das aus meiner Sicht etwas, wo wir klare Regeln haben, die jetzt einfach alle durchgesetzt werden müssen. Das ist unsere Aufgabe, und ansonsten ist es unsere Aufgabe, dass wir als Bürgerinnen und Bürger klar sind und auch deutliche Worte finden – zum Beispiel gegen Antisemitismus. Ich sehe, dass das viele tun – übrigens auch über alle religiösen Gruppen hinweg. Auch viele muslimische Bürgerinnen und Bürger unseres Landes haben sich sehr klar geäußert und sich gegen Antisemitismus ausgesprochen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Frage : Herr Bundeskanzler, erlauben Sie, dass ich eine Frage zu einem Thema stelle, das hier heute oder gestern bei den Beratungen mutmaßlich kein Thema war, das aber in Deutschland die Gemüter etwas erregt: Siemens Energy hat Staatshilfe angefragt. Halten Sie das für gerechtfertigt, oder sollte nicht erst der Mutterkonzern Siemens einspringen, um Siemens Energy zu helfen?

Auf der anderen Seite besteht ja auch ein gewisses Dilemma, weil Deutschland natürlich ein Interesse daran haben muss, die Windenergiebranche gegen chinesische Konkurrenten zu verteidigen. Wie sehen Sie da die Gemengelage?

BK Scholz: Siemens Energy ist ein ganz wichtiges Unternehmen, das steht außer Frage. Ansonsten ist es so, dass ich Ihnen hier berichten kann, dass wir in sehr guten und vertraulichen Gesprächen miteinander stehen. So wie sich das gehört, bedeutet Vertraulichkeit aber auch, dass ich darüber nicht berichten kann.

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben von einer Warnung gesprochen, unter anderem an die Proxys. Wenn man eine Warnung ausspricht, ist das häufig auch mit Konsequenzen verbunden. Was passiert, wenn die Warnung ignoriert wird? Gibt es in diesem Fall auch schon Konsequenzen, über die Sie sprechen könnten?

BK Scholz: Es ist wichtig, dass wir alles unternehmen und klar sind mit dem, was wir im Hinblick darauf sagen, dass es keine Eskalation dieses Krieges gibt. Das ist etwas, was auch Gegenstand all meiner Gespräche ist, die ich gegenwärtig führe.

Ich finde es übrigens sehr gut, dass ich nicht nur ganz selbstverständlich bei meinem Besuch in Israel mit dem Premierminister, Präsident Herzog und Minister Gantz gesprochen habe, sondern dass ich in diesem Zeitraum auch viele Gespräche mit Vertretern der Nachbarländer geführt habe. Ich habe mich mit dem türkischen Präsidenten unterhalten, mit dem Emir von Katar, dem König von Jordanien, dem ägyptischen Präsidenten, den ich auch besucht habe, sowie mit dem Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate. Und ich werde das auch weiter fortsetzen. Ich glaube, dass alle gemeinsam Einfluss ausüben müssen, der dazu beiträgt, dass es nicht zu einer weiteren Eskalation kommt. Übrigens sind die Gespräche sicherlich auch die Grundlage für das notwendige Vertrauen, das man miteinander braucht.

Frage: Ich habe auch eine Frage zum Konflikt im Nahen Osten und zum Thema Migration. Sollte Ägypten Flüchtlinge aus Gaza aufnehmen? Falls nicht, was wäre der alternative Plan für Menschen, die vor dem Konflikt fliehen?

BK Scholz: Ich bin sicher, dass Ägypten keine Flüchtlinge aus Gaza aufnehmen wird, auch andere Länder in der Region nicht. Sicher, wenn Kranke in andere Krankenhäuser verlegt werden müssen, werden viele Länder in der Region, aber vielleicht auch einige andere solche Krankenhausbehandlungen anbieten. Das ist aber nicht das, wonach Sie gefragt haben. Da geht es ja um viele, die einfach woanders hingehen. Ich glaube, dass auch die Regierungschefs – zum Beispiel der Präsident von Ägypten, der König von Jordanien – sehr klar gemacht haben, dass sie das nicht für eine Lösung dieser Herausforderungen halten, sondern jetzt geht es darum, dass wir humanitäre Hilfe auch nach Gaza bringen, dass wir sicherstellen, dass die Krankenhäuser dort betrieben werden können, dass wir alles das machen, was notwendig ist, und dass auch alles getan wird, zivile Opfer zu vermeiden. Denn das ist ja etwas, was wir mit großer Trauer sehen und deshalb Teil dessen ist, wo wir verstehen, dass das bei der Planung der Einsätze eine Rolle spielen muss und – soweit ich das überblicken kann – auch spielt.

Frage: Herr Bundeskanzler, eine Frage zu Ihren Gesprächen mit Herrn Vučić und Herrn Kurti. Wie beurteilen Sie jetzt nach dem Scheitern der gestrigen Gespräche die Lage?

Zweitens. In den Schlussfolgerungen steht: „The European Council regrets the lack of implementation by both Parties of the Agreement…“. Es gibt aber nur Maßnahmen gegen eine Seite. Wie ist das zu vertreten?

BK Scholz: Wir sind in dieser wirklich bedrückenden Angelegenheit weitergekommen. Ich teile Ihre Einschätzung also ausdrücklich nicht. Ich glaube aber, wenn man das politisch beurteilen will, kann man die von mir hier geschilderte Haltung teilen. Denn wir haben jetzt eine Aussage von beiden, von Kurti und Vučić, dazu, dass sie die Regelungen, die in den verschiedenen Dokumenten enthalten sind, die wir hier erarbeitet haben, dass sie die Grundlagenvereinbarung – die Ohrid-Vereinbarung, wenn ich das so sagen darf – und jetzt auch das Konzept, den konkreten Entwurf für eine Assoziation der serbischen Mehrheitskommunen im Kosovo einführen werden. Das ist klar gesagt. Und das ist ein wichtiger Schritt. Jetzt werden wir genau schauen, dass das auch tatsächlich geschieht.

Zuruf: Maßnahmen gegen Kosovo, aber nicht gegen Serbien?

BK Scholz: Jetzt geht es darum, dass diese Dinge hier durchgeführt werden und dass alle, die politische Verantwortung vor Ort haben, die Kraft aufbringen, etwas für die Zukunft zu regeln. Das ist keine Sache, wo man am Ende fragt „Wer hat die meisten Punkte?“, sondern es geht um die Frage: Wie bekommen wir eine Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger im Kosovo, für die Bürgerinnen und Bürger in Serbien, die eine friedliche Perspektive ist? Beide wollen in die Europäische Union; von beiden wollen wir, dass das passiert. Das müssen beste Nachbarn werden. Das ist eine Sache, die am besten gelingt, wenn diejenigen, die als Regierungs- oder Staatschef vorne anstehen, das dann auch selber zu ihrer Sache machen.

Frage: Heute früh haben Sie über die wirtschaftliche Lage in Europa und der Eurozone gesprochen. EZB-Präsidentin Lagarde hat gesagt, wie wichtig es war, Einigungen über die Reform der fiskalischen Regelungen bis Ende des Jahres zu erzielen. Ihre ehemaligen Kollegen beim ECOFIN sind aber noch weit von einer Einigung entfernt. Meine Frage ist also: Wie besorgt sind Sie, dass die EU hier zum Ende des Jahres keine Einigung erzielen kann?

Gleichzeitig hat Präsident Donohoe über die Ratifizierung des ESM gesprochen und hat gesagt, dass das notwendig ist. Das italienische Parlament möchte aber nicht ratifizieren. Sind Sie zuversichtlich, dass das italienische Parlament in den kommenden Wochen zustimmen wird?

BK Scholz: Zunächst einmal kann ich nur allen empfehlen, die ESM-Reform jetzt auch abschließend wirksam werden zu lassen. Sie ist sehr gut. Sie ist auch für Länder, die in einer ökonomisch schwierigen Lage sein könnten, wichtig, weil das unsere Kraft bündelt und verstärkt. Das ist eine gute Reform. Deshalb empfehle ich allen, die noch nicht dabei sind, sie zu beschließen.

Was die zweite Sache betrifft: Wir müssen sowohl bei der Review unseres Finanzrahmens als auch bei der Frage des Stabilitäts- und Wachstumspakts der europäischen „fiscal governance“ Ergebnisse erzielen. Daran muss noch hart gearbeitet werden. Aber das muss man dann für sich als Auftrag begreifen. Da wird noch viel zu diskutieren sein. Die Positionen sind noch nicht beieinander – weder bei dem einen noch bei dem anderen.

Frage: Herr Bundeskanzler, die Bundesregierung setzt sich sehr, sehr stark dafür ein, dass in der EU-Außenpolitik mit qualifizierten Mehrheiten gearbeitet werden kann. Befürworten Sie es, dass über die Israel-Politik der EU künftig auch mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann?

BK Scholz: Wir wünschen uns, dass es in der Außenpolitik qualifizierte Mehrheiten geben kann. Das ist, wenn Europa mit einer Stimme sprechen soll, eine hilfreiche Weiterentwicklung. Im Rahmen der Reform Europas schlagen wir das für die Außenpolitik, aber zum Beispiel auch für die Steuerpolitik vor. Ich glaube, das wird sich als Meinung immer weiter durchsetzen. Aber noch sind wir nicht so weit. Nur, wenn es zu einer Erweiterung der Europäischen Union kommt, sollten wir im Blick haben, dass diese dann auch handlungsfähig ist. Da werden ja noch mehr Mitglieder sein, große und kleine. Wenn wir da noch zu gemeinsamen Meinungen kommen sollen, wird es schon so etwas wie eine qualifizierte Mehrheit geben müssen, mit der man auch Beschlüsse in den Bereichen fassen kann, wo das ja auch ohne Vertragsänderung eröffnet ist.

Zuruf: Ist das Ihrer Meinung nach im Bereich Israel-Politik ohne Vertragsänderung möglich?

BK Scholz: Ich weiß nicht, worauf Sie mit Ihrer Frage hinauswollen. Wahrscheinlich haben Sie die Vermutung, dass dann falsche Beschlüsse gefasst werden. Die ist falsch.

Frage: Herr Bundeskanzler, es gibt Milizgruppen im Irak, die als Reaktion auf den Gazakrieg damit gedroht haben, die Koalitionstruppen anzugreifen. Was wird unternommen, damit dieser Konflikt nicht eskaliert? Welche Rolle spielt Iran? Gibt es in diesem Konflikt Dialoge mit Iran?

BK Scholz: Es sollte ganz klar sein, dass sich niemand in diesen Konflikt einmischt und dass es keine Eskalation gibt. Das ist die klare Message nicht nur von hier, sondern auch aus vielen anderen Orten.