Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen hält Lockerungen des Lockdowns schon bei einer Inzidenz ab 100 für falsch. „Mir macht große Sorgen, dass die künftige Strategie sich stärker an den von der Wirtschaft vorangetriebenen Rufen nach Lockerungen orientiert als an einer wirklichen Risikoadjustierung“, sagte Dahmen der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Montagausgabe) mit Blick auf die jüngsten Ergebnisse der Gespräche zwischen Bund und Ländern.
Besser wäre es seiner Auffassung nach gewesen, zunächst ein „Sicherheitsgeländer“ zu errichten, „bestehend aus flächendeckenden Schnelltests, einem FFP2-Schutzmaskenprogramm und einer funktionierenden Kontaktnachverfolgung“. An einzelnen Stellen, „wo es die Zahlen zulassen und wo es am wichtigsten ist“, hätte man dann mit Öffnungen anfangen können. „So ist zu befürchten, dass wir einreißen, was wir uns mit viel Mühe gemeinsam als Gesellschaft erarbeitet haben und infolgedessen viele Menschenleben riskieren. Lockerungen bei einer Inzidenz ab 100 – das ist Wahnsinn“, sagte der Grünen-Abgeordnete.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Dahmen, Kanzlerin und Ministerpräsidenten haben sich geeinigt: Der Lockdown wird bis zum 28. März verlängert – verbunden mit einigen Lockerungen. Die richtige Entscheidung?
Die Beschlüsse enthalten einige richtige Dinge, aber auch viele Sachen, die ich als Arzt und als Politiker der Opposition für falsch halte.
Fangen wir mit positiven Dingen an.
Da ist die Verständigung darauf, beim Impfen schneller werden zu wollen, zu nennen. Ich begrüße auch, dass endlich das Thema Schnelltest angegangen werden soll, wenn auch viel zu zögerlich und unsystematisch. Gut ist auch, dass offenbar anerkannt wird, dass wir uns aufgrund der Mutation nach wie vor in einer schwierigen Situation befinden.
Was läuft falsch?
Mir macht es große Sorgen, dass die künftige Strategie sich stärker an den von der Wirtschaft vorangetriebenen Rufen nach Lockerungen orientiert als an einer wirklichen Risikoadjustierung. Besser wäre es, zunächst ein Sicherheitsgeländer zu errichten, bestehend aus flächendeckenden Schnelltests, einem FFP2-Schutzmaskenprogramm und einer funktionierenden Kontaktnachverfolgung. Um dann an einzelnen Stellen, wo es die Zahlen zulassen und wo es am wichtigsten ist – etwa bei Bildung und sozialen Kontakten – mit Öffnungen anzufangen. So ist zu befürchten, dass wir einreißen, was wir uns mit viel Mühe gemeinsam als Gesellschaft erarbeitet haben und infolgedessen viele Menschenleben riskieren. Lockerungen bei einer Inzidenz ab 100 – das ist Wahnsinn.
Die Menschen sind aber ermüdet von all den Corona-Einschränkungen und sehnen sich nach Normalität.
Dieser Wunsch eint uns alle. Die Umfragen, die ich lese, zeigen aber ein etwas differenzierteres Bild. Die massive Forderung nach breiten Öffnungen kommt vor allem von Wirtschaftsverbänden, dem Einzelhandel und der FDP. Die Bevölkerung ist hingegen ermüdet von einem inneffizienten und schlechten Krisenmanagement. Davon, dass es kein koordiniertes Vorgehen gibt, wir zu langsam beim Impfen sind, es bei den Schnelltests nicht vorangeht und wir auch im zwölften Monat der Pandemie im gesamten Bereich der Kontaktnachverfolgung so schlecht sind.
Die Argumente des Einzelhändler, die auf dem letzten Loch pfeifen, greifen bei Ihnen offenbar nicht?
Klar ist, dass den Betrieben geholfen werden muss. Es ist ein Unding, das im November angekündigte Wirtschaftshilfen erst im Februar ausgezahlt werden. Gerade die Familienunternehmen, die Solo-Selbständigen und die Kulturschaffenden dürfen nicht im Regen stehen gelassen werden. Denen hilft aber ein kopfloses Öffnen, um dann in vier oder sechs Wochen wieder alles dicht machen zu müssen, auch nicht. Im Gegenteil: Das würde die Leute wirklich an den Rand der Existenz und an den Rand des Verständnisses bringen. Lockerungen im Einzelhandel führen trotz Einhaltung von Schutzkonzepten zu mehr Mobilität, zu mehr Kontakten und haben somit indirekt einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Infektionsgeschehen.
Forderungen nach Verbesserungen bei der Kontaktnachverfolgung und nach einem koordinierten Vorgehen sind ja nicht neu. Nach zwölf Monaten Pandemie ist aber in dieser Hinsicht nichts passiert. Wo soll das Vertrauen herkommen, dass sich nun in den kommenden drei Wochen Entscheidendes tut?
Es stimmt nicht, dass nichts passiert ist. Die Maßnahmen von Bund und Länder haben durchaus positive Effekte gehabt. Aber richtig ist: Wir sind im zwölften und nicht im dritten Monat der Pandemie. Insofern ist das, was bis jetzt vorbereitet und umgesetzt wurde, unterirdisch. Ich kann nicht verstehen, warum wir nicht längst ein Risikostufen-Schema haben, das nachvollziehbar macht, welche Maßnahmen bei welchem Infektionsgeschehen greifen. Das fordert die Wissenschaft, die Opposition und auch das RKI. Was als Ergebnis der Ministerpräsidentenkonferenz vorgelegt wurde, reicht nicht.
Ist es nicht auch ein großes Problem, das noch immer nicht gesichert ist, bei welchen Gelegenheit, an welchen Orten sich die Menschen vermehrt anstecken?
Es gibt eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, die sagen, dass es ein unterschiedlich stark ausgeprägtes Risiko von Öffnungen in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen gibt. Klar ist: Sind viele Menschen gemeinsam unterwegs, gibt es mehr Infektionen. Dort, wo Menschen in Räumen zusammentreffen, steigt das Risiko. Mit diesen Erkenntnissen wird aber ziemlich hemdsärmlich umgegangen. Im privaten Bereich gibt es die ausgeprägte Denke: Ich kenn doch die Leute die ich treffe. Da wird schon nichts passieren.
Bei der Bewertung der Lage wird auf den Inzidenzwert abgezielt, also auf die Anzahl der positiven Tests. Die deutliche Mehrzahl der positiv getesteten ist aber symptomfrei oder hat nur leichte Erkältungssymptome. Was taugt dieser Wert?
Auch symptomlose infizierte Menschen können andere anstecken und so dazu beitragen, dass sich die Infektion schneller verbreitet. So trifft es dann auch mehr Menschen, die schwer erkranken oder gar versterben. Das muss man sich immer wieder klarmachen. Der Inzidenzwert wird auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Es gibt aber auch andere Faktoren, die stärker berücksichtigt werden müssten. Beispielsweise der R-Wert, der bei der Mutante bei 1,3 liegt, was für ein exponentielles Wachstum in rasanter Geschwindigkeit sorgt. Derartige Faktoren müssen in den Bewertung mit einbezogen werden.
Einen Weg raus aus der Pandemie soll das Impfen bieten. Es geht aber zu langsam. Was muss passieren?
Bei der Impfreihenfolge müssen wir uns daran orientieren, was uns die Wissenschaft sagt. Die Ständige Impfkommission tut das mit der Intention, möglichst viele Menschenleben zu retten. Um das Tempo zu erhöhen, sollte in Arztpraxen geimpft werden ebenso wie in den betriebsärztlichen Abteilungen der großen Unternehmen. Das klappt bei den Grippeimpfungen Jahr für Jahr sehr gut.
Noch immer gibt es aber viele, die sich nicht impfen lassen wollen. Braucht es also eine Impfpflicht?
Nein, ich denke nicht. Es ist doch nachvollziehbar, dass die Menschen bei neuen Medikamenten oder eben einer neuen Impfung erstmal skeptisch sind und es Erklärungsbedarf gibt. Auch dabei könnten die Hausärzte eingebunden werden, zu denen ja noch am ehesten ein Vertrauensverhältnis besteht.
Das Thema Schnelltest wird nun angegangen. Was ist hier die erfolgversprechendste Strategie?
Die Bundesregierung verfolgt ja das Ziel, in Testzentren jedem einen kostenlosen Test pro Woche zu ermöglichen. Das reicht aber nicht aus. Gebraucht werden – mindestens zweimal pro Woche – Schnelltests für zuhause, oder auch an der Arbeitsstelle oder der Schule. Einem positiven Selbsttest muss dann ein PCR-Test folgen.
Der Bundestag hat für weitere drei Monate eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt. Haben Sie dem entsprechenden Koalitionsentwurf zugestimmt?
Der Einschätzung, es gibt einen Fortbestand der epidemischen Lage, stimme ich zu. Den vorgelegten gesetzlichen Regelungen habe ich nicht zugestimmt, weil sie schlecht gemacht sind, wie ich schon ausgeführt habe.
Das Gespräch führte Götz Hausding.
Janosch Dahmen sitzt seit November 2020 für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag und ist Mitglied im Gesundheitsausschuss.
Quelle: „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 8. März 2021)