Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel nach der Videokonferenz des Europäischen Rates am 25. März 2021

41 Prozent der Bundesbürger meinen, dass Angela Merkel mit den gegenwärtigen Krisen besser fertig würde als der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz. Copyright: Mandoga Media

BK’in Merkel: Guten Abend, meine Damen und Herren! Wir haben heute unseren Europäischen Rat im März gehabt, und er hat wieder als Videokonferenz stattgefunden. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass wir uns heute persönlich getroffen hätten, denn heute ist der 64. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge, die bekanntlich eine der Geburtsstunden der Europäischen Union ist, und gleichzeitig der 14. Jahrestag der Berliner Erklärung, die zu dem Lissaboner Vertrag geführt hat. Wir haben aber auch in der Videokonferenz ein sehr intensives Gespräch gehabt und verschiedene Themen bearbeitet, und das auch sehr erfolgreich.

Zuerst stand die Pandemie auf der Tagesordnung, die auch die Ursache dafür ist, dass wir uns nicht persönlich treffen konnten. Die Fallzahlen steigen weiter europaweit. Wir sind in der dritten Welle, aber im Grunde sind wir auch in einer neuen Pandemie, die durch die britische Mutation bestimmt wird. Hier ist natürlich für alle von uns klar, dass das Impfen der Weg aus der Krise heraus ist, und deshalb hat das auch im Mittelpunkt unserer Beratungen gestanden.

Ursula von der Leyen hat uns als Kommissionspräsidentin noch einmal berichtet, wo wir stehen, und hat auch über ihre Anstrengungen zu einer geänderten Exportkontrollverordnung berichtet. Wir haben bezüglich der Exportkontrollverordnung geäußert, dass wir keinerlei Störung der internationalen globalen Lieferketten wollen, aber dass wir natürlich daran interessiert sind, dass die Firmen, die mit uns Verträge abgeschlossen haben, auch wirklich vertragstreu sind. Wir sind als Europäische Union der Teil der Welt, der nicht nur sich selbst versorgt, sondern der auch in die Welt exportiert – anders als die Vereinigten Staaten von Amerika, anders als Großbritannien. Insofern sind wir auf der einen Seite daran orientiert und ausgerichtet, dass wir wirklich die globalen Lieferketten achten und den Protektionismus bekämpfen wollen, aber auf der anderen Seite wollen wir auch unsere eigene Bevölkerung versorgen, weil wir wissen, dass dies der Weg aus der Krise ist.

Wir haben uns im Einzelnen noch damit befasst, dass durch die Ausfälle bei AstraZeneca einige Länder in einer schwierigen Situation bezüglich der Belieferung mit Impfstoffen sind, und haben nach langer Diskussion auch den COREPER, also den Rat der Botschafter, noch einmal beauftragt, hier eine faire Lösung im Rahmen der Solidarität zu finden. Glücklicherweise hat BioNTech sich bereiterklärt, noch im zweiten Quartal 10 Millionen zusätzliche Dosen zu liefern, die eigentlich für das vierte Quartal vorgesehen wären. Wir wollen aber natürlich an dem Pro-rata-Ansatz für jedes Land festhalten und dennoch solidarische Mechanismen anwenden.

Wir haben außerdem noch einmal deutlich gemacht, dass wir wissen, dass die Bekämpfung des Virus, der Sieg über das Virus, erst dann erreicht ist, wenn wirklich jeder auf der Welt die Chance hat, geimpft zu sein, immunisiert zu sein. Das heißt, auch eine schnelle Impfung unserer Bevölkerung in der Europäischen Union ist noch keine Garantie dafür, dass sich nicht anderswo wieder Mutationen ausbreiten, die dann wieder zu uns kommen und die Wirksamkeit der Impfstoffe infrage stellen. Das heißt, wir hängen hier alle zusammen. Deshalb haben wir auch einen großen Teil der Diskussion auf die internationale Initiative COVAX verwendet, und die Europäische Union wird auch keinerlei Lieferungen an COVAX unterbinden, sondern wird schon jetzt bereit sein, COVAX zu stärken und zum Beispiel auch afrikanischen Ländern Impfstoffe zukommen zu lassen – zuzüglich zu dem, was ganz legal und im Rahmen von Bezahlungen an außereuropäische Länder exportiert wird – natürlich auch nach Großbritannien.

Ein zweiter großer Schwerpunkt war heute Abend das Thema der Türkei und unserer Beziehungen zur Türkei. Die Europäische Kommission und der Außenbeauftragte haben einen Bericht zur Türkei vorgelegt, den wir als sehr gut empfunden haben, weil er die Vielfältigkeit der Beziehungen zur Türkei darlegt. Wir alle haben die Spannungen im östlichen Mittelmeer in den Monaten des letzten Jahres verfolgt und sind sehr dankbar dafür, dass es jetzt zu einer Entspannung im östlichen Mittelmeer gerade auch in Bezug auf Griechenland und Zypern gekommen ist.

Wir haben dies natürlich auf der einen Seite begrüßt, aber auf der anderen Seite auch die innenpolitische Entwicklung in der Türkei in den Blick genommen und unsere Sorge hierüber geäußert, insbesondere auch, was zum Beispiel den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention beinhaltet.

Wir glauben angesichts der durchaus vorhandenen Meinungsverschiedenheiten, zum Teil auch tiefen Meinungsverschiedenheiten, dass Sprachlosigkeit trotzdem keine Antwort ist, sondern dass wir Kontakte mit der Türkei auf allen Ebenen brauchen, um über die kontroversen, aber auch über die gemeinsamen Interessen zu sprechen. Hierbei war ein Kernpunkt die EU-Türkei-Erklärung. Sie ist jetzt fünf Jahre alt. Sie hat sich bewährt. Sie hat illegale Migration verringert. Sie hat die Tätigkeit von Schleusern erschwert. Sie hat vor allen Dingen vielen, vielen Flüchtlingen geholfen. Das Geld der Europäischen Union ist ganz konkret für Projekte für Flüchtlinge eingesetzt worden, sei es die medizinische Versorgung, sei es die Schulbildung oder sei es auch die Versorgung mit Lebensmitteln.

Im Rahmen der EU-Türkei-Erklärung ist auch die Frage der Zollunion und der Modernisierung ein Thema. Wir brauchen jetzt praktisch einen zweistufigen Ansatz, für den wir uns entschieden haben. Wir machen jetzt einen ersten Schritt und vergeben ein Mandat, um die Beziehungen weiterzuentwickeln. Im Juni wollen wir dann weitere Beschlüsse fassen und natürlich auch schauen, wie sich die Entspannung im östlichen Mittelmeer weiterentwickelt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang dem Ratspräsidenten, der Kommissionspräsidentin und dem Hohen Beauftragten ganz herzlich danken, die sich sehr intensiv dafür eingesetzt haben, dass diese Vereinbarung bezüglich der Türkei auch wirklich vereinbart und umgesetzt werden konnte, aber genauso auch den Hauptbetroffenen der Spannungen im östlichen Mittelmeer. Das ist auf der einen Seite Zypern und auf der anderen Seite Griechenland. Es geht dabei nämlich um unmittelbare Nachbarschaft mit der Türkei, und diese Länder sind der Situation natürlich am meisten ausgesetzt.

Wir haben uns in einem dritten Schwerpunkt mit der Fortentwicklung der Digitalunion befasst. Digitalisierung ist ein Kernelement unserer zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit. Deutschland hat hier mit anderen Mitgliedstaaten die Initiative übernommen und die Kommission gebeten, hier schnell zu handeln, zum einen im Hinblick auf die digitale Souveränität und unsere Stärken, die wir in der Europäischen Union weiterentwickeln müssen. Wir haben aber auch um eine Analyse unserer Schwächen gebeten.

Es ist vollkommen klar, dass wir dringenden Handlungsbedarf haben, sowohl bei der Regulierung von Onlineplattformen – wir glauben auch, dass wir das nicht national oder europäisch alleine machen können, sondern hierfür eine globale Initiative ergreifen sollten – als auch mit Blick auf die künstliche Intelligenz und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen. Das ist von großer Dringlichkeit, und wir haben die Kommission gebeten, auch schnell Vorschläge vorzulegen. Das umfasst auch die digitale Identität; denn sie ist Voraussetzung für das Funktionieren eines digitalen Binnenmarktes.

Es hat dann einen kurzen, aber sehr präzisen und instruktiven Euro-Gipfel mit der Präsidentin der Europäischen Zentralbank und dem Eurogruppenchef gegeben. Hierbei war der Schwerpunkt heute die internationale Rolle des Euro. Die Rolle des Euro ist in den letzten Jahren nicht stärker geworden, und wir müssen alles tun, um den Euro als wichtige Weltwährung zu platzieren, ohne uns dabei zu überheben. Hier ist noch einmal deutlich geworden, dass insbesondere die Fortentwicklung der Bankenunion, aber – für mich noch wichtiger – auch die Fortentwicklung der Kapitalmarktunion von größter Wichtigkeit sind.

Abschließend, aber natürlich auch als einen ganz besonderen Punkt in unserem Europäischen Rat gab es eine Videoschalte mit dem neugewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Joe Biden. Wir haben uns über die transatlantische Agenda ausgetauscht. Joe Biden hat seine Vorstellungen dargelegt, und Charles Michel und António Costa als Vertreter der rotierenden Präsidentschaft haben unsererseits deutlich gemacht, was das europäische Interesse ist.

Es gibt eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten, die wir pflegen und wieder mehr pflegen wollen, ob es die Zusammenarbeit beim Thema des Klimas ist, ob es die Einstellung von Handelsstreitigkeiten ist – es ist ja immerhin gelungen, den Zollstreit zwischen Boeing und Airbus schon einmal zur Ruhe zu bringen – oder ob es das Verhältnis zu China, zu Russland oder auch zur Türkei ist, das von Joe Biden extra erwähnt wurde. All diese Fragen sind heute aufgeworfen worden.

Wir hoffen, Joe Biden im Sommer im Europäischen Rat und vielleicht zu einem Nato-Treffen in Europa begrüßen zu können. Heute war es ein erstes Kennenlernen, aber eine Geste, die sehr, sehr wichtig war und bedeutet, dass wir wieder enger im Gespräch sind.

Das waren über die Stunden verteilt die Aufgaben des heutigen Europäischen Rates. Wir brauchen damit morgen nicht noch einmal zu tagen. Ich denke, es war sehr effektiv und sehr komprimiert, aber auch sehr erfolgreich.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, im Zusammenhang mit Corona hatten Sie wegen der vielen Reisen nach Mallorca geplant, die touristischen Reisen irgendwie zu unterbinden. Nun gibt es dagegen offensichtlich erhebliche juristische Bedenken. Halten Sie an diesem Vorhaben fest, oder befürchten Sie, dass das nachher von Gerichten gekippt werden könnte?

BK’in Merkel: Ich habe gesagt, dass ich die Ressorts, die dafür verantwortlich sind, noch einmal bitte, umfassend und wirklich tief zu prüfen, ob eine solche Möglichkeit der Beschränkung von Reisen besteht. Ich kann dem Ergebnis nicht vorgreifen. Wir können uns nicht rechtswidrig verhalten. Deshalb bin ich auf das Ergebnis der wiederholten Prüfung gespannt. Aber es gibt schon erhebliche juristische Bedenken, und die muss man ernst nehmen. Politisch habe ich heute jedenfalls noch einmal darum gebeten, das wirklich umfassend abzuprüfen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben jetzt zwei Sachen nicht erwähnt, über die die Bundesregierung heute entschieden hat, die aber auch die europäischen Partner beeinflussen, nämlich zum einen die Einstufung Frankreichs als Hochrisikogebiet und zum anderen die Anforderung, dass künftig alle Flugreisenden bei der Einreise nach Deutschland einen Negativtest vorweisen.

Haben Sie das mit den europäischen Partnern abgestimmt? Denn das wird, da Deutschland in der Mitte Europas liegt, möglicherweise große Auswirkungen auch auf alle Nachbarstaaten haben.

BK’in Merkel: Was die Einreise mit einem Test anbelangt, so hat Frankreich, denke ich, schon weit vor uns ähnliche Regelungen eingeführt.

Was die Einstufung Frankreichs als Risikogebiet anbelangt – das habe ich ja auch schon im Blick auf Mallorca gesagt -, so sind das einfach objektivierte Verfahren. Dabei geht es nicht um politische Willenserklärungen, sondern man schaut sich die langanhaltenden Inzidenzen an. Wenn die Inzidenzen, wie in diesem Falle, nachhaltig über 200 liegen, dann erfolgt die Einstufung als Risikogebiet. Das bedeutet aber zum Beispiel nicht, dass es um Grenzkontrollen geht. Das wird oft missverstanden. Deshalb gibt es ein ganz bestimmtes Verfahren, wer Tests wie oft vorweisen muss. Das wird mit Frankreich besprochen. Dafür gibt es auch die notwendigen Übergangszeiten. Wir haben durch die Region Moselle sowieso schon sehr eingespielte Verfahren bezüglich der Pendler. Ich halte das also nicht für eine besonders auffällige oder besondere Maßnahme.

Aber wenn man sich die Inzidenzen anschaut, dann sieht man, dass es einfach faktisch notwendig ist. Das ist ein zwar nicht ganz, aber fast vollständig automatisierter Prozess.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe noch zwei Fragen zur Präzisierung, was die Exportkontrollen angeht. Was ist denn jetzt die Haltung des Rates? Soll es Einschränkungen bei den Exporten nach Großbritannien geben? Wenn ja, welche?

Zweitens eine Frage zur Verteilung der Impfstoffe innerhalb der EU. Sie sagten, es soll am Pro-rata-Prinzip festgehalten werden, aber einen solidarischen Mechanismus geben. Ich dachte, dieser Pro-rata-Mechanismus sei der solidarische Mechanismus. Wie muss man sich diese neue Verteilung vorstellen?

BK’in Merkel: Pro rata ist der Grundmechanismus, auf den wir uns geeinigt haben. Das ist auch kein neuer Mechanismus, das ist der alte Mechanismus. Es hat sich nur herausgestellt, dass nicht alle von pro rata Gebrauch gemacht haben. Jetzt geht es darum, wie wir das Pro-rata-Prinzip in Bezug auf die zehn Millionen möglichst weitgehend erhalten und trotzdem Solidarität gegenüber denen zeigen, die noch nicht pro rata Anteil an den Impfstofflieferungen haben. Das ist natürlich wie immer eine relativ komplizierte Aufgabe – etwa wie die Quadratur des Kreises, aber darin besteht ja gerade Politik -, und damit haben wir jetzt den COREPER beauftragt.

Was die Exportkontrollen anbelangt, hat sich die Kommission gestern ja selber Regeln gegeben, die wir im Grundsatz befürwortet haben. Wir haben als Europäischer Rat nur noch einmal darauf hingewiesen, dass es eine Vielzahl von Verquickungen und international Abhängigkeiten gibt. Aber wir haben der Kommission zugestimmt, dass dann, wenn Unternehmen ihre Verträge nicht einhalten, natürlich Exportbeschränkungen wahrscheinlicher sind, als wenn Unternehmen ihre Verträge gegenüber der Europäischen Union einhalten. Gleichzeitig ist aber gestern auch richtigerweise geäußert worden, dass wir, wenn es um Großbritannien geht, von einer Win-win-Situation ausgehen wollen, also politisch vernünftig agieren wollen, weil es zum Teil etwas komplizierter ist, als man auf den ersten Blick denkt.

Drittens wollen wir ins Auge fassen – das finde ich bei Exporten mehr als legitim -, wie die Impfrate in den Ländern aussieht, in die exportiert wird. Wenn sie nun deutlich höher ist als die innerhalb der Europäischen Union, ergeben sich sicherlich eher Anhaltspunkte dafür, noch einmal zu überlegen, nicht ob der Export stattfindet, sondern wann er stattfindet. Auch das sind ja Möglichkeiten, bestimmte Variationen vorzunehmen. Wir haben volles Vertrauen in die Handlungsweise der Kommission; das ist heute auch noch einmal deutlich geworden. Sie verhandelt die Verträge. Sie vertritt unsere Interessen. Aber der Wunsch war eben, darauf zu achten, dass Lieferketten nicht infrage gestellt werden.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, noch einmal zu Präsident Biden, der ja heute zu Ihnen gesprochen hat. Er hatte sich in seinem ersten größeren Interview in Washington doch sehr hart gegenüber China geäußert und davon gesprochen, dass, wenn man das einmal übersetzt, Präsident Xi keinen demokratischen Knochen im Leib hätte. Hat er sich denn heute gegenüber der EU ähnlich offensiv in Bezug auf China geäußert?

Vor allen Dingen: Was heißt das eigentlich für Sie aus deutscher Sicht? Werden Sie jetzt wieder dichter an die USA gegen China heranrücken? Haben Sie nicht die Sorge, dass damit mögliche deutsche Wirtschaftsinteressen in China negativ beeinflusst werden könnten?

BK’in Merkel: Es geht nicht nur um Wirtschaftsinteressen, sondern es geht ja darum, dass das, was wir europäische Souveränität nennen, gelebt wird. Das heißt, wir haben mit den Vereinigten Staaten von Amerika natürlich ein gemeinsames Wertefundament; das ist vollkommen unbenommen und klar. Aber wir haben auf der anderen Seite auch jeweils unsere Interessen. So, wie die Vereinigten Staaten von Amerika ja schon in Alaska lange und ausführlich mit China gesprochen haben, werden auch wir mit China sprechen.

Dass China ein Systemwettbewerber ist, wissen wir ja seit längerem. Aber wir müssen natürlich auch schauen, wie wir Werte und Interessen zusammenbringen. Dabei sollte es schon eine europäische Chinapolitik geben. Sie wissen, dass ich mich dafür sehr eingesetzt habe, und ich werde das auch weiter tun. Da wird es viele Gemeinsamkeiten mit den Vereinigten Staaten von Amerika geben, aber keine Identität. Das ist vollkommen klar.

Danke schön und noch einen schönen Abend. Heute mussten Sie ja nicht so lange warten.